Erinnerst Du Dich?

Ein berührender Text zu den ungewissen Erinnerungen unserer Kinder zu ihren Anfängen
Als Baby bist Du oft unruhig und ich singe Dir ein Lied. Ganz sanft umschließt die Melodie Deinen Körper. Sofort wirst Du ruhiger, gibst Dich den Klängen hin. Manchmal schaust Du mich mit interessierten, offenen Augen an. Manchmal schließt Du sie und driftest in eine andere Welt, begleitet von der süßen Melodie. Und ich frage mich: erinnerst Du Dich? Erinnerst Du Dich an die Lieder, die ich Dir im Bauch vorgesungen habe? Erinnerst Du Dich an die Zeit, in der Dich meine Stimme durch Watte erreichte? Erinnerst Du Dich?

Ganz friedlich schlummerst Du im Tragetuch. Solange ich mich bewege, bist Du ruhig und glücklich. Meine Schritte geben Dir Sicherheit. Deine Augen hältst Du geschlossen. Du zeigst mir damit Dein bedingungsloses Vertrauen. Und während meine Schuhe auf dem Gehweg klackern frage ich mich: Erinnerst Du Dich?
Erinnerst Du Dich an meine Bewegungen, als Du in meinem Bauch jeden Schritt verfolgtest? Erinnerst Du Dich an die Momente, in denen ich rannte, hüpfte, und gar schaukelte? Erinnerst Du Dich an all die Regungen, die Dich damals tagein, tagaus, schlafend und wach, begleiteten? Erinnerst Du Dich?

Eng an mich gekuschelt schläfst Du im Tragetuch. Deine Nase berührt meine Haut. Mit jedem Atemzug nimmst Du ihn auf, meinen Geruch. Du liegst in Deinem Bettchen und schläfst, erschöpft von dem aufregenden Tag. Sorgsam lege ich mein benutztes Schlafshirt an Dein Köpfchen, um auch im Schlaf ganz nah bei Dir zu sein. Und erneut frage ich mich: Erinnerst Du Dich?
Erinnerst Du Dich an den Geruch, als Du nach der Geburt auf meinem verschwitzten Körper lagst? Erinnerst Du Dich? 

Ich berühre Dich mit meinen Händen, streichle Dir über Deinen Kopf. Kitzele Deine süßen kleinen Füßchen, die noch wenig Last zu tragen haben. Ich gebe Dir Nähe und Geborgenheit, so oft und so lange Du es willst. Und ich frage mich: erinnerst Du Dich?
Erinnerst Du Dich an die Hand, die Dich bereits im Bauch von außen beschützte? Erinnerst Du Dich daran, wie ich über meinen kugeligen Bauch strich und versuchte Deinen Po oder Deine Füße zu erreichen? Manchmal zucktest Du zusammen und zeigtest mir, dass Du mich gespürt hast. Erinnerst Du Dich?

Wir sitzen am Tisch und essen. Begeistert wendest Du Gemüse und Nudeln in Deinen Händchen. Ein Stück nach dem anderen steckst Du Dir in Deinen Mund und kaust genüsslich darauf herum. Es scheint zu schmecken. Und ich frage mich: erinnerst Du Dich?
Erinnerst Du Dich an das Essen, was Dich in meiner Schwangerschaft über die Nabelschnur erreichte? Meine sorgsam ausgewählten Gemüsegerichte und die nicht ganz so durchdachten Schokoladenschübe? Erinnerst Du Dich an die Geschmacksrichtungen, die Du über meine Muttermilch zu Dir genommen hast?

Du liegst auf mir, Dein kleines Köpfchen mit seinen seidenen Härchen liegt fest an mich gedrückt, Dein Ohr in meine Haut gegraben. Inzwischen bist Du so groß, dass Du meinem Körper entwachsen bist. Passtest Du früher gänzlich auf meinen Bauch, hängen Deine Beine nun herunter. Und doch bist Du noch so klein. Ganz still liegst Du da, mit dem Kopf auf meinem Herzen. Deine sonst so zappeligen Beine sind ganz ruhig. Du horchst auf meinen Herzschlag und all die anderen Geräusche, die sich darum versammeln. Du ruhst Dich aus, fühlst Dich geborgen. Und ich frage mich: Erinnerst Du Dich?
Erinnerst Du Dich daran, wie es damals war, als Du vor mehr als einem Jahr von Innen den Geräuschen meines Körpers lauschtest? Erinnerst Du Dich an den Herzschlag, der Dich neun Monate begleitete? Erinnerst Du Dich an mein Bauchgluckern, das auch jetzt gerade den Herzschlag übertönt? Erinnerst Du Dich?

Ganz egal, ob Du Dich erinnerst oder nicht. Denn ich erinnere mich. Ich behalte diese Momente ganz fest in mir drin. Ganz fest in meinem Herzen, das auch außerhalb des Bauches weiter für Dich schlägt. Und irgendwann, irgendwann erzähle ich sie Dir, diese wunderbaren Momente, die uns beide für immer miteinander verbinden. Und dann erhalte ich vielleicht sogar eine Antwort auf die Frage "Erinnerst Du Dich?".

Deine Mama

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